„Wir müssen reden“ – Die Pathologisierung von Angst und Phobie stiftet Schaden

Die Pathologisierung von Angst und Phobie stiftet Schaden. Plädoyer für einen Dialog zwischen Therapeuten und Coaches.

Frau L. möchte ihre „Krabbelphobie loswerden“, und ich als Coach soll das „wegmachen“. Ich finde heraus, dass es das Wort „Spinne“ ist, das sie meidet. Nach einer dramatischen Episode, in der solch ein Tier sie in eine besonders missliche Lage brachte, aus der ihr Partner sie erst nach Stunden befreien konnte, beschloss sie etwas zu unternehmen. Sie befindet sich seit geraumer Zeit deswegen in Psychotherapie, auf die sie drei Monate hat warten müssen. Dort habe sie viel über ihr Verhältnis zu ihrer Mutter gelernt, allerdings sei die Spinnenphobie noch da.

Ich kläre sie auf, dass ich gern mit ihr arbeite, dass sie dabei in einer Selbstverantwortung steht und dass ich coache und nicht therapiere. Sie zögert, weil das Coaching von der Krankenkasse nicht bezahlt wird. Sie überlegt einen Tag und entscheidet sich dafür, es versuchen zu wollen. Wir betrachteten das Problem auf der Meta-Ebene, arbeiteten u.a. mit Submodalitäten und Ressourcenanker. Nach rund einer Stunde hat sich die „Krabbelphobie“ erledigt. Sie kann das Wort Spinne problemlos aussprechen und will sich eine Fangvorrichtung kaufen, um diese „nützlichen Tiere“ lebend nach draußen befördern zu können.

Unterschiedliche Annahmen

Die Krabbelphobie von Frau L. zeigt die unterschiedlichen Herangehensweisen von Coach und Therapeut. Der Therapeut geht von einer Krankheit (Phobische Störung ICD 10 F40.2) aufgrund eines tiefenpsychologischen Problems mit der Mutter aus, der Coach von einer für die Klientin sinnvollen guten Absicht der Reaktion, z.B. Schutz. Letzte Annahme war in diesem Fall die erfolgreiche, und zwar in Bezug auf Zeit, Geld, Effizienz und, das füge ich mit Stolz hinzu, auf Nachhaltigkeit. Frau L. ist seit gut zwei Jahren von ihrer Phobie befreit.

Damit spreche ich der Psychotherapie keineswegs die Existenzberechtigung ab. Jeder verantwortungsbewusste Coach weiß, dass es Menschen mit einer psychischen Verfassung gibt, die allein zu coachen negative Folgen für alle Beteiligten hätte. Natürlich gibt es Kolleginnen und Kollegen, die meinen, wirklich alles mit Coaching lösen zu können. Sie leisten der Branche einen Bärendienst. Doch ebenso wenig steht der Branche der Psychotherapeuten ein Heiligenschein zu. Da können sich beide bis zur Schulter die Hand reichen, denn auf beiden Seiten lassen Qualität und Professionalität manchmal zu wünschen übrig.

Systemisch und klug wäre es für die Zukunft, unsere Stärken für den Dienst am Menschen zu bündeln. Und uns z.B. zu überlegen, wie wir es anstellen, dass nicht-therapiebedürftige Angst-und Phobiezustände (wie die von Frau L.) durch gut qualifizierte Coaches abgedeckt werden. So würden Psychotherapeuten entlastet, sodass sie sich primär und die Therapiebedürftigen kümmern können.

Ich bin seit 2011 Master-Coach, gut ausgebildet und ordentlich nach drei Jahren curriculumsgetreu in einem der größten deutschen und internationalen Verbände zertifiziert. Ich bin fortbildungsfreudig, in ständigem Austausch mit Kollegen und fest in der Praxis verankert, in der Ängste und auch Phobien fast bei jedem Coaching auftauchen. Praxis meint hier den Zustand und nicht den Ort, zu dem Kranke und Patienten gehen, denn ich als Coach habe bekanntlich keine Heilerlaubnis.

Juristisch gesehen ist es eine Grauzone, wenn nicht sogar eine heikle Sache, wenn ich als Coach Klienten wie Frau L. begleite, die mit dem Wunsch durch die Tür kommen, sie möchten eine Lösung für die Flugangst, die klassische Spinnenphobie, Angst vor Wind oder Fröschen oder sie möchten wieder schlafen und ohne berufliches Gedankenkarussell im Kopf die Nacht verbringen. Ich kenne Coach-Kollegen, die sofort alle logischen Ebenen einklappen, wenn sie die Worte Angst oder Phobie hören. Sie haben ihrerseits Angst, dort anzuecken, wo heute ausschließlich Approbierte, Heilpraktiker für Psychotherapie und ECP-Zertifikats-Inhaber agieren. Das Eis ist ihnen zu dünn und die mögliche juristische Konsequenz zu abschreckend.

Ängste nehmen zu

Nun hat es selbstverständlich einen Grund, den Kreis derer, die kranke Menschen betreuen, zu reglementieren und nur durch Nachweis von Know-how zugänglich zu machen. Die menschliche Psyche ist tief und facettenreich. Ich würde im Bedarfsfall ebenso wenig zu jemandem gehen, der nach einem Wochenendseminar Zahnheilkunde plus Lektüre zweier Bücher zum Thema nun munter den Bohrer schwingt. Oder zu einem Coach, von dem ich weiß, dass er gemeinsam mit weiteren 200 Teilnehmern „gruppen-ausgebildet“ wurde oder in Wochenfrist sein Zertifikat erhielt.

Aus meiner Sicht ist ein Dialog zwischen Therapie und Coaching notwendig. Dafür sprechen auch die Fakten zum Krankenstand in der Berufswelt, die nach klassischer Betrachtung das eigentliche Arbeitsfeld des Coachings ist. 2016 gab es laut DAK-Analyse so viele Ausfalltage im Job wegen psychischer Erkrankungen wie noch nie: rund 246 Fehltage je 100 Versicherte. Die Zahl der Fehltage hat sich in den letzten 20 Jahren damit mehr als verdreifacht, sie lag 1997 noch bei 77 Tagen.

Ursachen dafür sehen Gewerkschaften, Betriebsärzte und Psychologen übereinstimmend in einer stark veränderten, immer komplexeren und beschleunigten Arbeitswelt. Hier verquickt sich das Arbeitsgebiet des Business-Coaches mit dem der „Kollegen“ aus der Psychotherapie. Coachees berichten zunehmend von Ängsten: Angst um den Job, Angst nicht zu genügen und letztlich auch pure Existenzängste, die sich in vielen Fällen auf der körperlichen Ebene auswirken. Ein Therapeut würde von Symptomen sprechen. Wir hören von unseren Kunden allerdings die gleichen Worte: Migräne, Schlafstörungen, chronische Schmerzen, Konzentrationsmangel, Sätze wie „Eigentlich bin ich ganz anders“, „Mir werden die Dinge egal“, „Ich fühle mich stumpf, leer…“

Manager, die bislang mit mulmigem Gefühl, allerdings tapfer den Flieger nahmen, können plötzlich nur noch Bahn fahren. Sind diese Menschen nach ICD krank? Finden sie damit ausschließlich bei einem Therapeuten Hilfe? Oder verhalten sie sich in Mustern, die ihnen nicht (mehr) guttun, und brauchen „nur“ wieder einen Zugang zur ihren Ressourcen? Darf ich als Coach hier Reframingarbeit oder Priming oder Formate der Ressourcenarbeit oder der Entkatastrophierung anwenden und helfen, ein blockierendes Muster aufzulösen?

Könnte, könnte, könnte

Und wenn das funktioniert hat und mein Klient/meine Klienten nun wieder in Gelassenheit fliegen oder besser schlafen kann, eine neue Strategie im Umgang mit dem Zuviel an Arbeit hat oder das Wort „Frosch“ keinen Schweißausbruch mehr hervorbringt, – hab ich dann verbotener Weise geheilt? Ich meine nein. Wir haben ein Muster verändert. Dabei habe ich geholfen. Angst hat der aktuelle ICD als Wort pathologisiert und zwar ohne Not. Denn Angst ist als Evolutionsprinzip mitnichten etwas, das grundsätzlich geheilt werden muss. Und zugespitzt gesagt könnte alles, was qualitativ von Ruhe und Gelassenheit abweicht, als Angststörung klassifiziert werden. Und schwupp, ist der Betroffene nicht mehr gesund und gehört in Therapie.

Die Grenzen zwischen Gesundheit, vorrübergehend ressourcenarmer Zustand und Krankheit sind fließend und können weder von Coaches noch von Psychotherapeuten stets eindeutig zugeordnet werden. Wir sollten uns von drei Konjunktiven nicht scheu machen lassen:

  • Es könnte im Coaching eine Retraumatisierung passieren.
  • Es könnte ein verdrängtes traumatisches Erlebnis hochkommen.
  • Es könnte einen tiefenpsychologischen Konflikt mit einem Elternteil geben.

Die Pathologisierung von Angst und Phobie per Definition hat zweifelsohne ihren Anteil am dramatischen Anstieg von „psychischen Störungen“ in den letzten zehn Jahren. Und an den immer länger werdenden Wartelisten bei Therapeuten, in stationären Kliniken und ambulanten Einrichtungen. Ebenso gut könnte ich unsere Gesellschaft per Definition zu einer kranken Gesellschaft erklären, zumal hier die Perspektive der Salutogenese – der Wissenschaft vom gesunden Sein – der historisch gewachsene pathogenen Sicht geopfert wird. Eine Konsequenz ist, dass tatsächlich Therapiebedürftige auch mittelfristig keinen verfügbaren Platz bekommen, weil Therapeuten sich um diejenigen kümmern (müssen), denen ein gut ausgebildeter Coach ebenso helfen kann. Eine andere die enormen Belastungen für die kassenärztlichen Systeme und Sozialabgaben.

Und noch ein Punkt: dem Betroffenen steht im Grunde genommen frei, ob er sich „in Therapie“ begibt oder sein Problem lieber im Rahmen eines Coachings lösen möchte. In diesem Fall muss ich als Coach eine realistische Einschätzung treffen, ob mein Methodenspektrum ausreicht oder ob im konkreten Fall die Grenze des im Coaching Machbaren überschritten würde. Eine paradoxe Situation. Denn auf welcher Basis soll ich das einschätzen können? Als Coach darf ich keine Diagnose stellen. Hier wäre eine Ausbildungs-Lücke zu schließen, die Coaches dazu befähigt, die Grenzen von Coaching  wahrzunehmen und dem Coachee eine Psychotherapie ans Herz zu legen.

Zwei Pole der Beratung

Unstrittig ist, dass Coaches in der Gesundheits-Prävention einen wichtigen Auftrag erfüllen können und gerade im Business-Kontext viel zu den Themen Resilienz, Kommunikation, Werten, Prozessoptimierung und Führungsskills beitragen.

Sehr hilfreich erscheint mir die Sicht von Gerhard Roth und Alicia Ryba , die dafür plädieren, „Coaching und Psychotherapie als zwei Pole einer Beratung mit einem großen Überschneidungsbereich anzusehen“*. Weiter sagen sie. „In der Tat: Wenn es um das Fühlen, Denken und Handeln von Menschen im beruflichen, öffentlichen und privaten Leben geht, dann kann man von den Faktoren ‚Persönlichkeit’ und Psyche nicht absehen. An den Coach werden somit Ansprüche gestellt, die denen eines Psychotherapeuten durchaus entsprechen.“

Wie wollen wir also künftig den steigenden Zahlen von erschöpften, ängstlichen und ratlosen Menschen begegnen? Wir könnten ein Screening in Erwägung ziehen, wann Coaching, wann Therapie und wann vielleicht beides angezeigt ist. Solange es kein Schulfach zu „Glück, Resilienz und Salutogenese“ gibt, könnten wir dazu lobbyübergreifend Brücken bauen. Die Politik könnte sich mit den Partnern des Gesundheitssystems sowie mit den Verbänden in den Bereichen Therapie und Coaching an einen Tisch setzen.

Denn es ist jetzt an der Zeit die Schnittmenge an gemeinsamen Arbeitsfeldern politisch, systemisch und gesellschaftlich zu definieren. Damit jede und jeder schnell und zeitnah die Hilfe bekommt, die sie und ihn effizient unterstützt, sich wieder in Richtung Wohlbefinden und Gesundheit nach WHO-Definition zu entwickeln.

Also: lasst uns reden.

Dr. Andrea Friedrich

Master-Coach (DVNLP), arbeitet als Trainerin, Beraterin und Coach in Unternehmen und mit Einzelpersonen.

(zuerst erschienen in PRAXIS KOMMUNIKATION, Heft 2/2018)

 


* Alica Ryba, Gerhard Roth: Für eine Professionalisierung des Coachings. In: PRAXIS KOMMUNIKATION, Heft 5/2016